Tag: Erinnerung
- Projekt, Hadas Tapouchi
Hadas Tapouchis Fotografien zeigen die alltägliche Stadtlandschaft, banale Orte des Wohnens und Arbeitens, des Lernens, der Freizeit und Erholung. Erst die Kontextualisierung mit historischen Informationen macht die Geschichte der jeweiligen Lokalitäten offensichtlich und verändert den Blick: Es handelt sich um Orte, an denen während der NS-Zeit Zwangsarbeiter*innen untergebracht waren.
Tapouchis fotografisches Mapping setzt sich mit der Normalisierung von historischen Orten im heutigen Stadtraum auseinander. Ihre Bilder aktualisieren die historische Distanz und vermitteln auf diese Weise zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Zwangsarbeiter*innen waren insbesondere während des Zweiten Weltkrieges im Straßenbild allgegenwärtig: Auf ihrem täglichen Weg zur Arbeitsstätte ebenso wie im öffentlichen Raum, etwa beim Einsatz im Straßenbau oder in städtischen Betrieben. Um Zwangsarbeiter*innen zugeteilt zu bekommen, mussten Unternehmen nicht nur ihren Bedarf anmelden, sondern auch eine Unterkunft bereitstellen. Aus diesem Grund errichteten gerade größere Firmen eigene Lager. Öffentliche Träger wie die Stadt München richteten Sammelunterkünfte ein und vermieteten Unterkunftsplätze an kleinere Unternehmen.
Tapouchi interessiert sich für die Potenziale eines kollektiven Gedächtnisses, das sich der Marginalisierung und Unsichtbarkeit von Geschichte im öffentlichen Raum widersetzt. Durch eine „Praxis der Erinnerung“ („Memory Practice“) erkundet sie ehemalige Raumordnungen und deren Machtverhältnisse – und fragt, wie die Erinnerung an die Gewaltgeschichte der Zwangsarbeit durch Gentrifizierung und Wertschöpfung überschrieben wurde. Ihr Projekt macht die Geschichte wahrnehmbar und bringt sie in die räumliche Nähe derer, die sich heute erinnern.
- Projekt, Sima Dehgani
Die letzten „Ostarbeiter“ und „Ostarbeiterinnen“ verließen erst im Spätsommer 1945 das Lager in Neuaubing. Ihre Heimreise bedeutete oftmals eine Fahrt ins Ungewisse. Ein Großteil von ihnen kam zunächst in sogenannte Filtrationslager, wo sie von Mitarbeiter*innen des sowjetischen Geheimdienstes NKWD verhört wurden. Auch später wurden viele von ihnen weiter pauschal der Kollaboration mit den Nazis verdächtigt, geheimdienstlich überwacht und diskriminiert.
Hanna Hutnyk, Marija Sadova, Oleksandra Havriš, Hanna Šust‘ und Anna Šapovalova wurden im Alter von 3 bis 17 aus Jewmynka nach Deutschland verschleppt, konnten jedoch nach Kriegsende in ihr Heimatdorf zurückkehren. Sie wollten an ihr vorheriges Leben anzuknüpfen, doch die Zeit in Deutschland bestimmte ihren Alltag. Zeitlebens wurden sie von außen mit Skepsis wahrgenommen. Auch wenn sie versuchten diesen Teil ihrer Vergangenheit hinter sich zu lassen, war diese aktenkundig: Ihre Geheimdienstunterlagen blieben bis in die 1980er Jahre Teil ihrer Personalakten.
Sima Dehgani reiste 2021 gemeinsam mit der Osteuropa-Expertin Kristina Tolok in die Ukraine, um dieser verlorenen Zeit in dem Lebensumfeld der Zeitzeug*innen nachzuspüren. Unterstützt wurden sie dabei von Ljubov Danylenko, Expertin zum Thema NS-Zwangsarbeit. Sie trafen Angehörige der ersten bis vierten Generation, das heißt die Zeitzeug*innen selbst, sowie deren Kindern, Enkel und Urenkel, die die Erinnerungen der ehemaligen Zwangsarbeiter*innen weitertragen. Eine besondere Rolle im familiären Gedächtnis nehmen Objekte ein, da sich in ihnen Erfahrungen, über die nicht gesprochen wurde, materialisieren und erhalten. Oft sind es Fotos von Angehörigen, die deren Abwesenheit verkörpern, aber auch eine Verbindung zu den Verstorbenen herstellen. Aufbewahrte Gegenstände aus Deutschland haben nicht nur symbolischen Gehalt, sondern fungieren mitunter als Beweisstücke für die erlittene Zwangsarbeit und daraus zu fordernde Entschädigungen. Dehganis Fotoserie vermittelt, wie sich Erinnerung in vielfältigen Formen bewahrt und wie Objekte Geschichte aktivieren können. Ihre Arbeit zeigt, dass das kollektive Gedächtnis an konkrete Dinge und Orte gebunden und in soziale Räume eingebettet ist.
- Projekt, Forum DCCA, Fabian Bechtle, Leon Kahane
Der Film „Neuaubing/Freiham“ betrachtet die Gleichzeitigkeit der Stadtentwicklung Freihams und das Sichtbarwerden des historischen Geländes des RAW-Lagers. In den Nachkriegsjahren geriet der historische Zusammenhang des Areals aufgrund zunehmender zeitlicher Distanz und verschiedener Nachnutzungen mehr und mehr in Vergessenheit.
Landesweite gesellschaftliche Debatten um die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der NS-Zwangsarbeit und mögliche Entschädigungszahlungen für ehemalige Zwangsarbeiter*innen in den späten 1990er Jahren sowie die Planungen für das 350 Hektar große Neubaugebiet Freiham ab den 2000er Jahren trugen dazu bei, dass auch die Geschichte des RAW-Lagers wieder sichtbarer wurde.
Der Planungsbereich Freihams umfasste zunächst auch das historische Gelände des ehemaligen Lagers. So gab es Pläne, dort einen großen Supermarkt und ein Möbelhaus zu bauen. Dies veranlasste die Nutzer*innen, die seit den 1970er Jahren die Baracken als Ateliers und Werkstätten verwendeten, und später auch die Stadt München dazu, historische Recherchen zu veranlassen.
Heute steht das Gelände unter Denkmalschutz. In Freiham existieren bereits erste Wohnungen und Bildungseinrichtungen. Aus der Perspektive des Stadtteilmanagers Daniel Genée erkunden Bechtle und Kahane diese Wechselwirkungen. Dabei stellen sich auch Fragen nach den Funktionen, die der künftige Erinnerungsort für eine vielfältige Stadtbevölkerung erfüllen soll, welche Erwartungen sich daran knüpfen, aber auch welche pragmatischen Bedingungen damit einhergehen.
- Projekt, Alex Rühle
Mit dem Sturz des italienischen Diktators Benito Mussolini im Juli 1943 kam der sogenannte Stahlpakt zwischen dem faschistischen Italien und Nazideutschland zu einem Ende. Das Königreich Italien schloss am 8.September 1943 einen Waffenstillstand mit den Alliierten und erklärte Deutschland den Krieg. Die italienischen Soldaten, die zuvor an der Seite der Deutschen kämpften, wurden mit diesem Tag zu Feinden des NS-Regimes. Jene, die sich in den von den Deutschen kontrollierten Gebieten befanden, wurden festgenommen. Diejenige, die sich weigerten, fortan auf Seiten Nazideutschlands zu kämpfen, wurden zu Kriegsgefangenen und als Zwangsarbeiter ausgebeutet.
Nach der Befreiung kehrten die ehemaligen “Italienischen Militärinternierten” in ein komplett verändertes Italien zurück. Ihre ambivalente Geschichte konnte nur schwer in das hegemoniale Nachkriegsnarrativ Italiens integriert werden. Viele empfanden ein tiefes Gefühl der Isolierung und sprachen fortan nie mehr über ihre persönliche Erfahrungen. Heute leben kaum noch Zeitzeugen; und für ihre Familien stellt sich die Zeit ihrer Väter in Deutschland wie eine große Lebenslücke dar. Die Reportage fragt nach der Bedeutung der historischen Erfahrungen im familiären wie transnationalen kollektiven Gedächtnis.
Im Herbst 2021 reisten der Journalist Alex Rühle, der Historiker Paul-Moritz Rabe und die Fotografin Alessandra Schellnegger durch Norditalien. Sie machten sich auf die Suche nach den Erinnerungen ehemaliger Militärangehöriger, die während des Zweiten Weltkriegs als Kriegsgefangene Zwangsarbeit in München leisten mussten. Sie trafen auf Söhne und Töchter, die insbesondere von Verlust und Vergessenheit berichteten.
Die Übersetzung der Gespräche übernahm Julia Rader. Für die Koordination danken wir Federica Dalla Pria.
- Projekt, Paintbucket Games
„Forced abroad“ basiert auf den originalen Aufzeichnungen des 1925 in Rotterdam geborenen Jan Henrik Bazuin. 1940 besetzten die Nationalsozialisten die Niederlande. Bei der Bombardierung der Stadt durch die Deutsche Wehrmacht im Mai wurde auch die Druckerei der Familie Bazuin zerstört, in der Jan vermutlich mitarbeitete. Er entging der großen Razzia von Rotterdam vier Jahre später, bei der in nur zwei Tagen rund 52.000 Menschen zum Arbeitsdienst ins Deutsche Reich verschleppt worden. Vermutlich befand er sich in dieser Zeit außerhalb der Stadt, weil er als Erntehelfer im Osten des Landes tätig war. Im November 1944 begann er, ein Tagebuch zu verfassen. In täglichen Einträgen berichtet er vom Kriegsalltag in der besetzten Stadt und der sich immer stärker zuspitzenden Hungerkrise. Zugleich schreibt er auch vom Streit mit seinen Eltern sowie von seiner neuen Liebe, Annie, und später schließlich von seinen Erlebnissen in Deutschland.
Bazuin konnte nach dem Zweiten Weltkrieg und seiner Rückkehr in die Heimat nie über seine Erlebnisse sprechen, doch er hinterließ mit dem Tagebuch ein wichtiges Zeugnis für die historische Forschung. Erst 2001, als Jan Bazuin starb, hat es sein Sohn Leon entdeckt.
Die Visual Novel basiert auf den Aufzeichnungen wurde jedoch um fiktive und interaktive Elemente ergänzt. Der Protagonist, Jan de Boer, erlebt eine nachempfundene Erfahrung: die Verschleppung von Rotterdam nach München, die Trennung von seinen Eltern und seiner ersten Liebe. Schließlich findet er Wege, um in Deutschland zu überleben. In einem Erinnerungsalbum, das User*innen während des Games anlegen, werden historische Hintergrundinformationen zur Verfügung gestellt, die zum Verständnis der Geschichte beitragen sollen. Die Illustrationen stammen von der Comiczeichnerin Barbara Yelin. Gemeinsam mit ihr ist zudem die Buchpublikation „Jan Bazuin: Tagebuch eines Zwangsarbeiters“ (C.H. Beck) entstanden.