Italien-Reise / Kinder von ehemaligen Zwangsarbeitern aus Neuaub

MÜNCHEN, MONACO, MALGOLO – und zurück

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Die vergessenen Geschichten der „Italienischen Militärinternierten“ oder wie ein ehemaliger Zwangsarbeiter in die Stadt zurückkehrt, in der er einst ausgebeutet wurde, und ein Dessert erfindet, das bis heute auf deutschen Speisekarten steht.

Fotos: Alessandra Schellnegger

Monaco im Sommer! Herrlich. Backwaren und Eis verkaufen an der Promenade, inmitten der Schönen und Reichen, zwei drei Monate lang – was kann es Schöneres geben. Ein Freund hatte den jungen Konditor Francesco Di Nuzzo im Frühjahr 1952 auf die großartige Arbeitsstelle aufmerksam gemacht, Di Nuzzo sagte sofort enthusiastisch zu, schließlich hatte der Neapolitaner in den Sommermonaten oftmals keine richtigen Jobs. Erst als es ans Fahrkartenkaufen ging, merkte er, dass die Reise gar nicht an die Côte d’Azur führte: Der Freund hatte ihm den Job nicht in Monte Carlo besorgt, sondern in München, Monaco di Baviera. Francesco Di Nuzzo hatte schon unterschrieben und musste nun nach Deutschland, zurück in die Stadt, in der er nur acht Jahre zuvor als Zwangsarbeiter solchen Hunger gelitten hatte, dass ihm alle Zähne ausgefallen waren. Tagsüber servierte er ab sofort im feinen Ristorante Roma, auf der Maximilianstraße, reichen Münchnern ihr Drei-Gänge-Menü, nachts suchten ihn die Albträume aus Neuaubing heim.

Fotoalbum mit historischen Aufnahmen der Familie Di Nuzzo
Fotoalbum der Familie Di Nuzzo: Hier Francesco mit Kolleg*innen im bzw. vor dem Ristorante Roma, Maximilianstraße 31, 1950er-Jahre; Ausflug ins Münchner Umland.
Ein Foto aus den 1950er-Jahren zeigt Francesco Di Nuzzo.
Francesco Di Nuzzo vor dem „Roma“. Ab 1952 arbeitete er als „Saisonarbeiter“ in dem Eiscafé und Restaurant, das später ein beliebter Treffpunkt der Münchner*innen wurde.

Francesco Di Nuzzo war einer von 230, einer von 150.000, oder einer von 13,5 Millionen, je nachdem, worauf man sein Augenmerk richtet. 13,5 Millionen Menschen wurden während des Nationalsozialismus als Zwangsarbeiter*innen missbraucht. Das ist eine konservative Schätzung für das Gebiet des damaligen Deutschen Reichs. Andere Quellen geben 25 Millionen für das Gesamtgebiet an, das Deutschland und die von ihm besetzten Gebiete umfasste. In jedem Fall handelt es sich um „die gewaltigste organisierte Verschleppungsaktion aller Zeiten“ [1].

Allein in München mussten mindestens 150.000 Ausländer*innen Zwangsarbeit verrichten. Man weiß heute sicher von 400 Lagerunterkünften auf dem Stadtgebiet. Sie waren überall, jeder und jede Deutsche hat sie permanent gesehen, zumal sie nicht abseits der Städte lagen wie die Konzentrationslager, sondern mitten in den Ortschaften, oft nahe an Rüstungs- oder Industriebetrieben. Der ehemalige französische Zwangsarbeiter François Cavanna schrieb in seinen Erinnerungen: „Zu jener Zeit war Berlin mit Holzbaracken nur so überzogen. In jeder noch so kleinen Lücke der Riesenstadt hatten sich Fluchten brauner, teerpappegedeckter Fichtenholzquader eingenistet. Berlin bildete ein einziges Lager.“ [2] Umso erstaunlicher eigentlich, dass es heute kaum noch Spuren und bisher nur einen einzigen museal umgestalteten offiziellen Erinnerungsort zu diesem großen Verbrechenskapitel der NS-Zeit gibt, das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin-Schöneweide. Die allermeisten Baracken sind längst wieder spurlos verschwunden. In ganz Süddeutschland hat überhaupt nur ein Ensemble die Jahrzehnte überdauert, in München-Neuaubing, an der Grenze zu Freiham, acht Baracken, die seinerzeit als Lager des dortigen Reichsbahnausbesserungswerk dienten. Untergebracht waren dort unter anderen 230 italienische Kriegsgefangene.

Historische Liste mit Namen von Personen, die sich im Lager der Reichsbahn befanden.
Auszüge aus der Lagerliste RAW-Lager Neuaubing, Italienische Militärinternierte, um 1944. Darin finden sich auch Giuseppe Burani, Francesco Di Nuzzo, Gino De Zolt, Guiseppe Degiovanni, Luigi Ganora und Albino Eicher (Clere). Quelle: Stadtarchiv München
Historische Liste mit Namen von Personen, die sich im Lager der Reichsbahn befanden.

37 Kilo. Die Zahl kommt immer wieder. Francesco Di Nuzzo geistert als abgemagertes Gespenst durch die Erzählung seiner vier Kinder. 37 Kilo hat er gewogen. Alle Zähne waren ihm ausgefallen. Mit 24. Ein Schatten seiner selbst. Die Sätze und Ausdrücke fallen mehrfach im Gespräch, vielleicht auch, weil die vier Kinder sonst so wenig wissen und sich an den kargen Überlieferungsresten festhalten. Francesco Di Nuzzo hat mit ihnen nie über die Neuaubinger Zeit gesprochen. Die Kriegsgefangenen galten schließlich als Verräter, erst in Deutschland, nach dem Krieg dann zu Hause in Italien. Und während die Erzählungen der ehemaligen Partisan*innen zu einem so heroischen wie mythisch überhöhten Fundament des neuen Italiens zusammenwuchsen, wollte von den Erlebnissen der bis zu 650 000 Militärangehörigen, die als Zwangsarbeiter ausgebeutet worden waren, niemand etwas hören.

Wir sitzen im Restaurant Nerina in Malgolo. Draußen lackiert die Oktobersonne den Bäumen vollen Goldglanz auf, hier drinnen haben Di Nuzzos Kinder üppig gekocht für die deutschen Gäste. „Kinder“, nunja, sie alle sind heute zwischen 50 und 60 Jahre alt und betreiben gemeinsam das Restaurant der Eltern weiter. Sie alle sind in München geboren, dank dem bizarren Monaco-Missverständnis. Ihr Vater hatte eigentlich fest vor, nach dem Sommerjob sofort nach Hause zurückzukehren.Aber dann lernte er im Roma eine sehr nette Norditalienerin kennen, und so kam er im darauffolgenden Sommer wieder nach München. Und blieb 15 Jahre. Gründete sein eigenes Restaurant, das „Fontana di Trevi“ in der Sonnenstraße. Gab nach Küchenschluss, am Hintereingang, allabendlich an arme Landsleute Essensreste aus. Bekam mit seiner Frau die vier Kinder. Schickte die beiden Großen auf die Grundschule, wo sie die Ausländer waren, die in der letzten Bank sitzen mussten. „Bis die ersten Türken kamen“, sagt Sandro, der Älteste von ihnen, so als sei das nunmal ein Naturgesetz. „Ab dem Moment waren wir nur noch die Vorletzten, durften mitspielen und die Türken waren in der Rolle der fremden Außenseiter.“

Aber was hat ihr Vater in Neuaubing gemacht? Die Folgen der Zwangsarbeit haben ihn vermutlich letzten Endes umgebracht, die fehlenden Zähne, ein kaputtes Herz, Nierenversagen, mit 65 war er tot. Die Kinder wissen, dass Francesco Waggons reparieren musste. Dass er im Bombenhagel Trümmer wegräumen sollte. Sie kennen zwei Anekdoten, die von grässlichem Hunger und Kälte handeln. Aber sonst?

Blick von der Terrasse des Restaurants.
Ausblick von der Terrasse des „Nerina“ auf das Nonstal, Malgolo/Trento, Oktober 2021. Das Nerina wurde 1969 von Francesco und seiner Frau Nerina gegründet und wird immer noch als Familienbetrieb geführt.
Ein digitales Foto auf einem Handy zeigt Familie Di Nuzzo.
Francesco und Nerina Di Nuzzo mit ihren Kindern Loredana, Cecilia, Sandro und Mario (unten), 1970er-Jahre. Francesco starb 1986, Nerina im Jahr 2021.

Spätestens im Juli 1943, mit der Landung der alliierten Truppen auf Sizilien, wandte sich der Großteil der nationalkonservativen und bis dahin faschismusfreundlichen Elite Italiens vom Faschismus und damit auch von Mussolini ab. König Viktor Emanuel III. ließ den „Duce“ am 25. Juli verhaften und installierte Pietro Badoglio als neuen Ministerpräsidenten. Der gab nur wenige Wochen später, am 8. September 1943, die italienische Kapitulation bekannt.

Hitler, der bereits Mussolinis Sturz als „Verrat“ bezeichnet hatte, sah diese Kapitulation erst recht als einen Akt infamer Niedertracht. Die deutsche Propaganda hetzte fortan, die Italiener hätten Deutschland ja schon im Ersten Weltkrieg verraten, typisch sei das. Die politische Stigmatisierung fand in der deutschen Bevölkerung erstaunlich große Resonanz, die Kriegsgefangenen wurden für die Deutschen zum Synonym des ,verräterischen’ Seitenwechsels Italiens [3].

Seit Mussolinis Absetzung hatte die Wehrmacht für den Fall der Kapitulation insgeheim Vorbereitungen getroffen und eigene Kontingente nach Italien, auf den Balkan, nach Südfrankreich und Griechenland entsandt. Am 8. September 1943 waren die meisten italienischen Einheiten dann völlig überrumpelt von der Bekanntgabe der Kapitulation. Die Wehrmachtsverbände hatten oftmals leichtes Spiel, die italienischen Truppen zu entwaffnen. Vielfach wurde den italienischen Soldaten versprochen, man werde sie in Zügen in ihre Heimat zurückbringen, nur bitte die Gewehre abgeben, dann geht’s auch schon nach Hause. Was natürlich gelogen war. 25.000 italienische Soldaten starben in diesen Tagen, entweder weil sie sich ihrer Entwaffnung widersetzten oder weil sie auf Transportschiffen festsaßen, die bombardiert wurden oder einfach nur wegen Überfüllung sanken.

Eine historische sogenannte Arbeitskarte
Arbeitserlaubnis für Francesco Di Nuzzo (ausgestellt aufgrund der Verordnung über ausländische Arbeitnehmer aus dem Jahr 1933), Arbeitsamt München, 1956. Ein Jahr lang arbeitete Di Nuzzo in München als Konditor im Café Kreutzkamm, das noch heute existiert. Privatbesitz Familie Di Nuzzo
Auf einem historischen Ausweis liegt eine Uhr und ein Ring.
Vorläufiger „Fremdenpass“ von Luigi Ganora, ausgestellt vom Polizeirevier 31, Zweigstelle Aubing, 1944; Armbanduhr und Ring des Vaters.
Eine grafische Organisationsaufstellung mit Passfotos
Zusammenstellung der „Veteranen ehemaliger Internierter“ aus Sala Monferrato, darunter auch Luigi Ganora (links oben, dritte Reihe), um 1950.
Eine Urkunde in italienischer Sprache
Anerkenunngsurkunde für den „Kämpfer der Freiheit Italiens“ Gino De Zolt, 1984. Gino de Zolt war zeitlebens sehr stolz auf diese Auszeichnung, die in den 1980er-Jahre von der italienischen Regierung vergeben wurde, jedoch nicht an alle ehemaligen Militärangehörige. Foto: NS-Dokumentationszentrum München

Die Züge fuhren ins Deutsche Reich, in die besetzten Gebiete in Polen und an die Ostfront und brachten reiche Beute. Insgesamt fielen den Deutschen rund 810.000 Italiener in die Hände. Sie wurden vor die Wahl gestellt, ob sie auf Seiten der Deutschen weiterkämpfen wollten oder sich für die Kriegsgefangenschaft entscheiden. 650.000 Mann verweigerten sich der Kollaboration und kamen in Zwangsarbeit. Goebbels schrieb in seinem Tagebuch, der „italienische Verrat“ sei ein „gutes Geschäft“ [4] gewesen. Für die allermeisten Italiener wurde es zu einer zutiefst traumatischen Erfahrung. Sie fanden sich – zur Strafe für ihren „Verrat“ – neben den Arbeiter*innen aus der Sowjetunion auf der untersten Stufe der rassistischen Hierarchie wieder. Was bedeutete, dass sie noch bedeutend schlechter verpflegt wurden als etwa französische oder niederländische Zwangsarbeiter. Die meisten Italiener wurden – wie auch die sowjetischen Gefangenen – dem grausamen Prinzip der „Leistungsernährung“ unterworfen: Wer sein Arbeitspensum nicht zu erfüllen vermag, bekommt die ohnehin karge Ration gestrichen. Weshalb Zehntausende in einen „Teufelskreis aus Unterernährung, verminderter Arbeitsleistung, Bestrafung und nochmals reduzierter Verpflegung“[5] gerieten. Kein Wunder, dass durch alle Erinnerungen Erzählungen von Essensresten, gebratenen Ratten oder psychotischem Hungerwahn geistern. Und davon, dass sie von der Zivilbevölkerung bespuckt und geschlagen wurden.

Die Deutschen befreiten Mussolini und erklärten ihn zum Führer der faschistischen Repubblica Sociale Italiana (RSI), einem auf Nord- und Mittelitalien beschränkten Rumpfstaat, der bis zum Kriegsende Bündnispartner des Deutschen Reiches. Militärangehörige eines verbündeten Staates konnten aber keine Kriegsgefangenen sein. Daher änderte Hitler Ende September 1943 ihren Status und erklärte sie zu „Italienischen Militärinternierten“ („IMIs“). Diese Umetikettierung hatte aber noch einen zweiten Grund: Laut Genfer Konvention war es verboten, Kriegsgefangene in Rüstungsbetrieben einzusetzen. Für „Militärinternierte“ galt dieses Verbot nicht.

Den Italienern wird es zu diesem Zeitpunkt herzlich egal gewesen sein, wie man sie nun offiziell bezeichnete, sie hatten genug damit zu tun, einfach nur die Schikanen und die Hungerstrafen bei schwerster körperlicher Arbeit zu überleben. Es sollte ihnen aber später zum Schaden gereichen: Die Kinder von Di Nuzzo haben ein Schreiben der italienischen Regierung. Er hatte um Entschädigung gebeten, leider nein, beschied ihm der Ministerrat, er war ja nicht im KZ. Dieses Schreiben haben alle IMIs bekommen, die um Entschädigung gebeten hatten. Keiner von ihnen hat vom italienischen Staat je Geld erhalten (nein, vom deutschen auch nicht, dazu gleich). Im Gegenteil. Die Heimkehrer wurden von vielen Italienern als Kollaborateure angesehen, die den verhassten Deutschen geholfen hatten, länger durchzuhalten.

Wir haben die Nachfahren sechs ehemaliger italienischer Zwangsarbeiter in Norditalien besucht, um zu erfahren, was ihre Väter erzählt haben aus dieser Neuaubinger Zeit. Es war eine Reise in tiefes Schweigen. Da sitzen 60-, 70-jährige Männer und Frauen mit ein paar Dokumenten und Fotokopien und diesem Lebensloch. Alle Nachkommen besitzen ein sehr ähnliches Schreiben, in dem die Regierung das Entschädigungsgesuch ihrer Väter abgelehnt hat. Noch die Kinder empfinden Schmerz über diese Aberkennung des Leids.

Pier Vanni Ganora kann in seiner Turiner Wohnung alle Kriegszahlen seines Vaters Luigi runterbeten, die Einberufung am 28. April 1941, die Gefangennahme am 15. September 1943, die Rückkehr im Juni 1945. Er starrt auf diese Zahlen und Fotokopien, aber von all dem Leben, das dazwischen passiert ist, weiß er nichts. Nur dass sein Vater auf dem täglichen Fußmarsch zu den Waggons von Neuaubinger Kindern geschlagen und verhöhnt wurde. Dass er später eine geradezu zwanghaft hortende Beziehung zu Brot hatte. Dass er nie mehr nach Deutschland wollte. Und dass er selbst es sich nicht verzeiht, nicht mehr gefragt, den Vater nicht aus diesem dunklen Schweigen gezogen zu haben. Pier Vanni Ganora schaut auf die vergilbten Fotos, sein 24 Jahre junger Vater schaut aus seiner Uniform zurück auf den grauhaarigen Sohn, bis der zu weinen anfängt und die Schultern zuckt: „Nichts weiß ich. Gar nichts.“

Pier Vanni Ganora bringt Blumen an das Grab seines Vaters.
Pier Vanni Ganora am Grab seines Vaters Luigi, Sala Monferrato, November 2021.
Drei historische Fotos zeigen jeweils Vater und Sohn.
Fotos Luigi Ganora mit Sohn Pier Vanni, 1960er-Jahre.

Fabia De Zolt empfängt uns in ihrem Wohnzimmer. Ihr Vater Gino ist im vergangenen Jahr an Corona gestorben, er wurde 96. Über seine Erlebnisse in Deutschland hat Gino De Zolt genau einmal gesprochen, 2017, als im Auftrag des NS-Dokumentationszentrums München schonmal eine Historikerin hier oben in Pieve di Cadore, am Fuße der Dolomiten, vorbeikam.

Miniaturmöbel aus Holz
Selbstgemachtes Holzspielzeug von Gino De Zolt. Bis kurz vor seinem Tod hat er sich handwerklich betätigt.
Auf einem Stück Brotteig liegt ein geformtes Brötchen und eine Backform.
Backform in Hakenkreuz-Form, Zeit unbekannt. Albino Eicher Clere hat die Backform einst von einem Bekannten erhalten, der überzeugter Faschist war.
Eine historische Publikation über die Kriegszeit
Publikation „Die Jahre des Horrors“ mit Erinnerungsberichten zweier lokaler Zeitzeugen, herausgegeben u.a. von Lucio Eicher Clere, 1994. Enthalten sind darin die Erinnerungen seines Vaters Albino über die traumatischen Erfahrungen in russischer Kriegsgefangenschaft 1942.

Fabia setzte sich an jenem Tag heimlich neben den Ofen und schrieb mit, was ihr Vater im Nachbarzimmer der Historikerin erzählte: Die Frauen und Kinder, die den Italienern auf dem Weg zur Arbeit ins Gesicht spuckten. Der Hunger, der jede Nacht an ihm nagte. Sein spöttisches Lachen, als die Historikerin ihn fragte, ob es denn in Neuaubing auch mal Fleisch zu essen gegeben habe. Wie er zurückkam, „mager wie ein Stock“. Als die Historikerin ihn gegen Ende des Gesprächs fragte, ob er denn wenigstens mit seinem Bruder, der ebenfalls als „Militärinternierter“ irgendwo in Deutschland gewesen war, über diese Zeit gesprochen habe, sagte er nur: „Nein. Wozu.“ Am Tag danach versuchte Fabia nochmal ihren Vater auf diese Zeit anzusprechen, „aber er hat gesagt, darüber will er nie mehr sprechen.“ Sie macht mit ihrer Hand eine Bewegung wie ein Fallbeil. „Niente. Silenzio“.

Trotz aller individueller Unterschiede bei den sechs Erinnerungsbegegnungen, war bei allen sehr auffällig, dass selbst die, die sagten, da sei von Seiten ihres Vaters immer nur bleiernes oder bitteres Schweigen gewesen, Dinge über den rasenden Hunger jener Zeit wussten. Alfredo Burani erzählte von seinem Vater Giuseppe, er habe „später nie auch nur einen Krümel im Teller gelassen“, ähnlich sagte Franco Degiovanni über seinen Vater Giuseppe, Brot sei ihm in späteren Jahren „heilig“ gewesen. Und die Verletzung, keine Anerkennung bekommen zu haben, die prägt sich auch durch alle Gespräche durch. So sagt Pier Vanni Ganora sein Vater Luigi sei extrem gesellig, zugewandt, menschenfreundlich gewesen, aber die Zeit in Deutschland, die habe er weggesperrt, erst recht, nachdem der italienische Staat ihm jede Anerkennung verweigert habe. Vielleicht der interessanteste Moment in diesen Treffen: Bei dem Interview mit Ganora saß auch dessen Frau dabei. Während sich Ganora an den paar dürren Jahreszahlen festhielt, die er wusste, erzählte seine Frau fast plaudernd von ihrem Vater, der bei der Entwaffnung durch die Deutschen in einen Kasernenhof gebracht wurde und dann die immergleiche Schlüsselszene erlebte: „Da war ein Tisch gedeckt und die Deutschen haben gesagt: Entweder du kämpfst für Mussolini oder du kommst nach Deutschland. Er konnte fliehen und war dann bei den Partisanen. Nach dem Krieg hat er gern davon erzählt.“ – „Naja,“ sagte Pier Vanni Ganora nach längerem Schweigen, „das ist die andere Geschichte. Da redet es sich leichter, das wollten alle gern hören.“

Und dann gibt es noch die ganz anderen Geschichten wie die von Albino Eicher Clere, der enormes Glück hatte, weil ihn irgendeine Parteibonzin, wie sein Sohn Lucio annimmt, quasi adoptiert hat: „Der Sohn dieser Deutschen war im Krieg, unten in Süditalien. Vielleicht hat mein Vater sie an ihren Sohn erinnert, jedenfalls bekam er dank dieser Frau gut zu essen und hat bei der Familie im Garten und auf dem Feld gearbeitet, total privilegiert.“

Alfredo Burani steht vor einer Modelleisenbahn.
Alfredo Burani vor seiner Modelleisenbahn, November 2021. Sein Vater Giuseppe, der als Zwangsarbeiter bei der Reichsbahn in München eingesetzt wurde, arbeitete später u.a. als Bahnpolizist in Mailand.
Acht Passfotos und ein Ausweis sind in zwei Reihen nebeneinander angeordnet.
Passfotos von Giuseppe Burani aus verschiedenen Jahrzehnten. Das Foto links oben entstand am 4. März 1943, kurz vor seiner Einberufung zum Militärdienst. Er starb im Alter von 89 Jahren im Januar 2014. Privatbesitz Alfredo Burani

Vielleicht hätten die 650.000 Heimkehrer mehr geredet, wenn sie jemals Entschädigung erhalten hätten. Die italienische Regierung hätte die reine Tatsache anerkennen können, dass all die Militärinternierten die harte Zwangsarbeit der Zusammenarbeit mit SS-Einheiten oder den Truppen von Saló vorzogen. Man muss diese Entscheidung sicher nicht in allen Fällen zur „Resistenza senz’armi“, also zum „Widerstand ohne Waffen“ hochpathetisieren, zumal von einem breiten antifaschistischen Konsens unter den Militärinternierten keine Rede sein konnte. Dass sie aber völlig aus dem kollektiven Erinnern getilgt wurden, trieb viele von ihnen in bitteres Schweigen. Zumal auch die deutsche Regierung diesen 650.000 Männern nie einen Pfennig gezahlt hat. Die deutschen Unternehmen, die von ihrer Arbeit so immens profitiert haben, auch nicht. Zynischer geht es eigentlich kaum. Diese Männer wurden im Krieg schlechter behandelt als viele andere Kriegsgefangenen, im Nachhinein wurde ihnen aber ihr Leid aberkannt.

Ein historisches Dokument des Internationalen Suchdienstes des Roten Kreuzes
Korrespondenz von Giuseppe Burani mit dem Internationalen Suchdienstes des Roten Kreuzes über einen offiziellen Nachweis für seinen Aufenthalt als Zwangsarbeiter in Deutschland, 1964.

Das 1953 in Kraft getretene Bundesentschädigungsgesetz betraf rassisch, religiös oder politisch Verfolgte und schloss alle aus, die „nur“ zur Ausbeutung ihrer Arbeitskraft als Zwangsarbeiter verschleppt worden waren. 2000 wurde dann die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) gegründet, die zur Hälfte aus Bundesmitteln, zur Hälfte von Wirtschaftsunternehmen finanziert wurde – wobei die Firmen alles von der Steuer absetzen konnten. Die EVZ handelte mit verschiedenen Ländern Zahlungen für ehemalige Zwangsarbeiter aus – italienische Militärinternierte und sowjetische Kriegsgefangene waren davon ausgeschlossen. 2015 beschloss die Bundesregierung für die letzten noch lebenden ehemaligen sowjetischen Arbeitssklaven eine rein symbolische „Anerkennungszahlung“. Ein von der Bundesregierung in Auftrag gegebenes Gutachten kam zu dem Schluss, die „Italienischen Militärinternierten“ seien ja die ganze Zeit über Kriegsgefangene gewesen, ihnen stehe also kein Geld zu. Historiker wie Ulrich Herbert kritisierten dies scharf als eine Farce und einen billigen juristischen Trick, was aber nichts am Ergebnis änderte: Die italienischen Zwangsarbeiter wurden nie entschädigt.

Die vier Kinder Di Nuzzos führen das Restaurant ihrer Eltern bis heute. Francesco hat hier oben, in den Hügeln des Trentino mit der Gründung des Nerina die süditalienische Küche eingeführt, „frische Nudeln kannten sie in Malgolo gar nicht“, sagt Mario, der Koch. Bis heute orientiert er sich an den Rezepten seines Vaters. Auch wir werden während unseres Besuchs reichhaltig bewirtet und am Ende bringt Mario ein Dessert rein, das aus München stammt: Im Ristorante Roma wurde Francesco Di Nuzzo eines Tages beauftragt, eine eigene Nachspeise zu kreieren. Francesco nahm Biskuit, viel Sherry, Rum, Wasser und Zucker, und überzog das alles mit Sahne und Sirup. Der Mann, der am Stadtrand von München von Kartoffelschalen gelebt und all seine Zähne verloren hatte, dieser Mann hat zehn Jahre später im reichen Herzen der Stadt die Zuppa Romana erfunden, die es bis heute auf vielen Münchner Speisekarten gibt.

Drei historische Speisekarten liegen nebeneinander.
Historische Speisekarten aus den Restaurants „Fontana Di Trevi“ und „Roma“, 1980er-Jahre. Die von Francesco Di Nuzzo kreierte Süßspeise befand sich noch immer auf den Speisekarten.
Ein Rezeptbuch mit losen Blättern liegt auf einer schwarzen Oberfläche.
Rezeptesammlung von Francesco Di Nuzzo aus seiner Münchner Zeit. Viele Gerichte und Backwaren des Vaters stehen noch heute auf der Speisekarte des Ristorante „Nerina”.

Wenn man an eine gemeinsame europäische Idee glaubt, dann braucht es auch gemeinsames Erinnern. Erinnerungskulturen sind fast immer national strukturiert, abgetrennt voneinander, oft dienen sie nur dazu, sich in seinem eigenen Schmerz und seinen frisierten Helden- oder Opfer-Mythen einzuigeln. Wenn 2025 der Neuaubinger Erinnerungsort eröffnet, dann findet dort das riesige Thema der „zivilen Zwangsarbeit“ endlich einen adäquaten erinnerungspolitischen Ort; außerdem werden darin die unterschiedlichen Geschichten und Erinnerungen von Niederländern, Ukrainer*innen, Franzosen und Französinnen, Italienern, Polen und Polinnen und Menschen aus mindestens zehn weiteren Nationen zusammenfließen. Hoffentlich wird es auch eine Cafeteria geben. In der muss dann Zuppa Romana serviert werden, im Gedenken an Francesco Di Nuzzo, der allabendlich am Hintereingang seines „Fontana di Trevi“ hungrigen Landsleuten alles schenkte, was vom Tage übrig war. Und der vorne im Laden den Münchner*innen, die ihn zehn Jahre zuvor bespuckt hatten, seine eigene Nachspeise kredenzte.

Gesprächsnotizen

Was alle Gespräche mit den Nachkommen von italienischen Zwangsarbeitern eint, war ein Gefühl der Trauer. Nicht so sehr um den jeweiligen Toten, sondern um das Nichtwissen, das Vakuum, die Leere. Alle erzählten sie, wenn sie überhaupt was erzählten, von der Kälte und vom Hunger, von Essensresten, von geteilten Rationen.

Francesco Di Nuzzo (1921-1986)

erzählt von seinen vier Kindern Cecilia, Loredana, Mario und Sandro im Restaurant Nerina, das Di Nuzzo 1969 gemeinsam mit seiner Frau in deren Heimatort Malgolo eröffnete.

Vier Personen stehen vor einem Restaurant.
Loredana, Cecilia, Sandro und Mario Di Nuzzo vor ihrem gemeinsam geführten „Albergo Ristorante Nerina“, Malgolo/Trento, Oktober 2021.
Vier Hände halten ein gerahmtes Foto.
Die vier Angehörigen mit Erinnerungsfoto von Vater Francesco Di Nuzzo, Malgolo/Trentino, 2021.

Unser Vater hat sein Leben lang so viel gearbeitet, da war keine Zeit für Aufarbeitung. Und er ist ja schon mit 65 gestorben, da waren wir alle noch zu jung, als dass wir wirklich hartnäckig gefragt hätten.

Papa hat nur formelhaft von der Zeit als Zwangsarbeiter erzählt, „grandi deprivazioni“, große Entbehrungen… Er hat in Neuaubing all seine Zähne verloren. Als er wiederkam, wog er noch 37 Kilo. Danach herrschte über dieses Kapitel das große Schweigen im ganzen Land, alle wollten vergessen. Aber der Körper vergisst nicht. Im Grunde ist unser Vater an den Spätfolgen der Neuaubinger Zeit gestorben, das Herz, die Nieren, am Ende ist alles kollabiert.

Wir wissen, dass in Neuaubing dieses Reichsbahnausbesserungswerk war, in dem kaputte Waggons repariert wurden. Aber wir vermuten manchmal, dass er in der Lagerküche gearbeitet hat, weil er öfters diese eine Geschichte von einem anderen Gefangenen erzählt hat, der in den Abfällen nach Essen suchte. Und dem hat er zugeflüstert, dass er ihm abends ein Paket mit Essensresten im Müll versteckt. Andererseits – wenn er in der Küche gearbeitet hat, warum hat er dann all seine Zähne verloren?

Naja, und sieben Jahre später dann diese unglaubliche Verwechselung. Er hat damals in San Remo in einer Eisdiele gearbeitet, als ein Freund ihm einen Job in Monaco anbot. Papa dachte, er kommt an die Cote d’Azur und ist stattdessen in Monaco di Baviera gelandet – ausgerechnet. In München also, auf der Maximilianstraße, im feinen Ristorante Roma, wo er unsere Mutter kennengelernt hat. Wir sind dann alle vier in München geboren, und in einer Wohnung in der Schwanthalerstraße 58 aufgewachsen, direkt an der Theresienwiese. Später hat er dann sogar ein eigenes Restaurant aufgemacht, das Fontana di Trevi, das war super chic damals, mit lauter Promi-Unterschriften an den Wänden. Und nachts hat er immer hinter der Küche die Essensreste an arme Landsleute verteilt.
Als ich (Sandro, geboren 1960) in die Grundschule kam, musste ich als Italiener in der letzten Bank sitzen, da hinten gab’s das „Italiener-Eck“. Wir waren die Außenseiter. Bis eines Tages die ersten Türken kamen. Von dem Tag an haben mich die Deutschen mitspielen lassen – und die Türken waren die Fremden.

Unser Vater hat nie irgendeinen Groll gegen die Deutschen empfunden. Er wurde als Süditaliener hier in Norditalien ja genauso diskriminiert wie in Deutschland, „Terrone“ hieß er, das ist ein Schimpfwort für die Süditaliener und unsere Mutter musste sich jahrelang diffamierende Sprüche anhören. Dabei hat er hier im Dorf die gute Küche eingeführt, frische Nudeln, richtige Pizza, wir kochen bis heute nach seinen Rezepten, inklusive der Zuppa Romana, die er damals in München erfunden hat. Das gab immer wieder ein großes Hallo, wenn Münchner Gäste hier im Nerina die Speisekarte lasen, sich wunderten und dann erfuhren, dass er, Francesco Di Nuzzo, diese Nachspeise in den 50er-Jahren auf der Maximilianstraße erfunden hat. Übrigens genau dort, wo heute ein Gucci-Laden ist, das haben uns Bekannte berichtet, die kürzlich München besucht haben. Dass er in derselben Stadt nur wenige Jahre zuvor fast am Hunger, Überarbeitung und Kälte gestorben wäre, hat er nie dazu erzählt. 16 Jahre war er in München, von 52 bis 68, aber nach Neuaubing ist er in der ganzen Zeit kein einziges Mal gefahren.

Im Zimmer unserer Eltern stehen bis heute eigentlich nur die Möbel, die sie in den 50er-Jahren in München gekauft haben, fast wie in einem Museum.

Giuseppe Burani (1924-2014)

erzählt von seinem Sohn Alfredo Burani

Zwei Hände halten ein Foto von Vater und Sohn.
Alfredo Burani als Kind mit Vater Giuseppe Burani, 1950er-Jahre.
Portrait von Alfredo Burani
Alfredo Burani, 2021.

Mein Vater war ein sehr kontaktfreudiger Mensch. Wir fuhren in den Sommerferien immer an die Riviera, in den 60er Jahren war das. Da kam er oft ins Gespräch mit deutschen Touristen; und danach hat er dann manchmal was angedeutet. „La vita era difficile“, das war eine Art Mantra. Später dann, im Alter, hat er mehr erzählt, vor allem seiner Enkelin, wahrscheinlich weil die ganz unbedarft Fragen stellte. Er wurde am 18. August 1943 eingezogen und nur drei Wochen später in seiner Kaserne von den Deutschen festgesetzt. Als er versuchte, in seiner Alltagskleidung zu fliehen, wurde er geschnappt und in einem Viehwaggon nach Deutschland geschickt. Erst musste er in Moosburg arbeiten, um anscheinend bei der Kartoffelernte zu helfen. In Neuaubing – keine Ahnung, was er da genau gemacht hat. Er muss sehr unter der Kälte und dem Hunger gelitten haben, das kam immer wieder. Wie sie nach Essensresten suchten … Brot war ihm später heilig und er hat nie auch nur einen Krümel im Teller gelassen. Im Alter war er extrem kälteempfindlich, ich denke oft, das kam aus dieser Zeit. Er konnte etwas deutsch, hat deshalb oft zwischen seinen Kameraden und den Deutschen vermittelt und hatte dadurch ein besseres Verhältnis zu einem der Aufseher. Vielleicht war es auch ein deutscher Vorarbeiter. Der hat ihn wohl mehrfach zu sich nach Hause mitgenommen. Und er hatte eine Tochter. Zwischen ihr und meinem Vater muss es etwas gefunkt haben. Angeblich wollte er sogar, dass mein Vater nach dem Krieg in Deutschland bleibt.

Vor dem Kriegsende sagten die deutschen Kapos mehrfach, wenn wir die Superwaffe haben, dann bringen wir euch italienischen Verräter alle um und machten dazu diese Halsabschneidegeste. Im April ’45 wurde er wegen einer angeblichen Sabotageaktion verhaftet. Kurz vor der Befreiung gab es einen Bombenangriff, da ist er dann abgehauen und hat sich zu Fuß bis Innsbruck durchgeschlagen. Ein paar Tage später traf er die ersten Amerikaner.

Er hat dann bei der Eisenbahnpolizei angefangen zu arbeiten und auf dem Mailänder Bahnhof eine junge Frau angesprochen, die ihren Zug verpasst hat. So haben sich meine Eltern kennengelernt.

Zweimal hat er Entschädigungsanträge gestellt, einmal an die italienische Regierung, einmal nach Deutschland. Beide Male gab es nichts. Er war ein außerordentlich positiver Mensch, aber das hat ihn sehr getroffen.

Gino De Zolt (1924-2020)

erzählt von seiner Tochter Fabia De Zolt, im Haus ihres Vaters, in Santo Stefano di Cadore am Fuße der Dolomiten

Zwei Hände halten ein Portraitfoto.
Fabia De Zolt mit Foto von Vater Gino De Zolt.
Portrait von Fabia De Zolt
Fabia De Zolt, 2021.

Es gibt ein italienisches Sprichwort, „fare le ale alle farfalle“, den Schmetterlingen Flügel machen, für Leute, die handwerklich sehr begabt sind. Mein Vater konnte alles, er hat dieses Haus allein gebaut.

Er hat mir nie etwas über seine Zeit in Deutschland erzählt, ich habe erst 2017, als eine Historikerin zu einem Interview vorbeikam, erfahren, was er erlebt hat. Da saß ich hier am Ofen und hab heimlich mitgeschrieben. Als ich ihm am nächsten Tag dazu Fragen gestellt habe, ging es ihm sehr schlecht. Er sagte, er sei „tot“ von dem Interview und wolle nie wieder darüber reden. Selbst mit seinem Bruder, der ja ganz Ähnliches erlebt haben muss – kein Wort über die Zeit in Deutschland. Natürlich hat er Entschädigungsanträge gestellt, aber da kamen nur Büroschreiben zurück: leider gibt es für Sie nichts. Selbst darüber hat er nicht gesprochen.

Ich weiß also nur Dinge von hier: Meine Schwester wurde manchmal zu Fuß von hier oben mit Essenspaketen nach Bozen runtergeschickt, die seine Eltern für ihn gepackt haben. Das kam alles nur in Krümeln in Deutschland an, wenn überhaupt. Als er im Juni ’45 zu Fuß hier im Dorf eintraf, wog er nur noch 43 Kilo. Das ganze Dorf war zu seiner Begrüßung auf den Beinen – aber dann hat er erfahren, dass sein Vater tot war. Die Partisanen hatten im Krieg Bäume auf die Straße gelegt und mit Sprengfallen ausgestattet. Die Deutschen haben dann Italiener aus den Dörfern gezwungen, diese Bäume wegzuräumen. Einer davon war mein Großvater, der bei der Räumung von einer explodierenden Bombe getötet wurde.

Mein Vater hat dann jahrzehntelang in Cortina d’Ampezzo als Zimmermann gearbeitet. Er war bis zuletzt topfit. Er hat noch kurz vor seinem Tod aus Tausenden von Streichhölzern diese Kirche gebastelt und hat sich lustig gemacht über mich, wenn ich fürs Einkaufen einen Zettel brauchte. Und dann ist er im Herbst 2020 ganz schnell an Corona gestorben.

Luigi Ganora (1922-2003)

erzählt von seinem Sohn Pier Vanni Ganora in Turin

Zwei Hände halten ein Foto von Vater und Sohn.
Pier Vanni Ganora als Jugendlicher mit Vater Luigi, 1960er-Jahre.
Portrait von Pier Vanni Ganora
Pier Vanni Ganora, 2021.

Danke, dass Sie extra aus Deutschland gekommen sind, aber ich habe leider nichts zu erzählen. Ich weiß nichts. Mein Vater hat nichts erzählt. Ich hab nur diese Dokumente, und das Familienalbum. Wenn er das aufgeschlagen hat, hat er immer sofort geplaudert, die sieben Geschwister, das Leben auf dem Land … Er war ein sehr guter Tänzer und sehr gesellig, aber die Zeit in Deutschland, die hat er tief in sich weggesperrt.

Was ich weiß: Er war gerade in Montenegro stationiert, als sie von den Deutschen entwaffnet und deportiert wurden. Und in Neuaubing herrschte der Hunger. Extremer, grausamer Hunger. Es gab Bombardierungen. Einmal ist er eingebrochen in den Brotschrank. Auf dem täglichen Weg zur Arbeit wurden sie von deutschen Kindern angespuckt. Nach der Befreiung ist er zu Fuß über den Brenner. Auf dem Weg hat er sich aus alten Zugvorhängen notdürftige Kleidung gemacht. Seine eigene Schwester hat ihn nicht erkannt, als er auf dem elterlichen Hof ankam, er musste ihr seinen Namen nennen, so dünn war er. Mehr weiß ich nicht.

Pier Vanni Ganora verstummt. Seine Frau erzählt von ihrem Vater, der bei der Entwaffnung durch die Deutschen in einen Kasernenhof gebracht wurde. Da war ein Tisch gedeckt und die Deutschen haben gesagt: Entweder du kämpfst für Mussolini oder du kommst nach Deutschland. Er konnte fliehen und war dann bei den Partisanen. Nach dem Krieg hat er gern davon erzählt, auch sie erzählt all das munter, fast stolz.

Naja, sagt Pier Vanni Ganora, das ist die andere Geschichte. Da redet es sich leichter, das wollten alle gern hören. Mein Vater hat nie Entschädigung bekommen. Geschweige denn Anerkennung. Nach dem Krieg hat er in Turin erstmal Eisenbahnwaggons ausgebessert, wie in Neuaubing. Er war ein Leben lang bei Fiat angestellt. Ganora weint. Mir bleibt nur dieser Schmerz. Warum hab ich ihn nicht gefragt. Es tut mir sehr leid, dass ich Ihnen nicht mehr erzählen kann.

Giuseppe Degiovanni (1922-1991)

erzählt von seinem Sohn Franco Degiovanni in der Wohnung in Casale Monferrato, in der auch Giuseppe früher wohnte

Zwei Hände halten ein historisches Foto von Vater und Sohn.
Franco Degiovanni als Kind mit Vater Giuseppe, 1950er-Jahre.
Portrait von Franco Degiovanni
Franco Degiovanni, 2021.

Ein Deutscher hat mal zu mir gesagt, das Piemont sei das Preußen Italiens. Wir kommen aus Pinerolo, hinter Turin. Meine Urgroßväter haben mitgekämpft bei der Einigung Italiens, mein Großvater war im Libyenkrieg, mein Vater wurde 1942 eingezogen. Am 8. September 1943 wurde seine Einheit völlig alleingelassen, die Offiziere sind alle abgehauen und die Soldaten wurden in Viehwaggons von Montenegro nach Königsberg deportiert. Kein Essen, viele sind unterwegs gestorben. Dort musste er dann Schiffe entladen. Irgendwann wurde er nach München deportiert, vielleicht weil die Russen Richtung Königsberg vorrückten. In Neuaubing hat er dann Zugwaggons repariert. Die Deutschen waren sehr streng und sehr gut organisiert. Das Einzige, was es gab, waren Hunger, Kälte und Läuse. Sonntags wurden die Zwangsarbeiter oft für irgendwelche Arbeiten ausgeliehen. Mein Vater musste ein Mädchen aufs Land bringen, zu Verwandten eines Lagerchefs, weil München immer häufiger bombardiert wurde. Er hat von den Bauern was zu essen gekriegt, Brot, Butter, Marmelade. Das hat er aufgehoben, um es abends im Lager mit seinem Freund zu teilen. Als derselbe Freund auch zu diesen Leuten aufs Land raus ist, hat er ebenfalls zu essen bekommen, aber alles allein aufgegessen. Ab dem Tag wurde mein Vater den Menschen gegenüber misstrauisch. Und hat auch mich immer gewarnt: Pass auf mit Freunden!

Die Kälte und der Hunger in Neuaubing haben ihn sehr geprägt. Er hat hier im Winter immer alle Ritzen und Löcher zugestopft und den Holzofen eingeheizt, bis er glühte. Er hat noch versucht Invaliditätsrente zu bekommen, weil er sich in Deutschland Tuberkulose geholt hat. Der italienische Staat wollte einen eindeutigen Nachweis, dass die Krankheit aus Kriegszeiten kommt. Die endgültige Antwort der Behörden kam über 30 Jahre nach der ersten Anfrage, da war mein Vater längst tot: Er hat hier in Casale Monferrato bei Eternit gearbeitet und ist an Lungenkrebs gestorben, wegen des Asbests, wie so viele. Meine Mutter ebenfalls, bei ihr waren es die giftigen Lacke. Wo früher die Fabrik stand, ist heute ein Gedenkpark, da geh ich oft hin, um an die beiden zu denken.

Mein Vater sprach oft davon, dass er nochmal nach Neuaubing will. Ich hatte nie Zeit – glaubte ich zumindest. Der einzige Trost war ihm diese Urkunde: „Attestato Volontario della Liberta“. Er hat diese Schlüsselszene erlebt, die so viele erzählen. Ein Kasernenhof, ein gedeckter Tisch, wer sich für Mussolini und die Republik von Salo verpflichtet, bekommt zu essen, wer sich verweigert, muss in den Zug nach Deutschland. Er hat sich verweigert.

Albino Eicher Clere (1922-1987)

erzählt von seinem Sohn Lucio Eicher Clere

Zwei Hände halten ein historisches Foto von Vater und Sohn.
Lucio Eicher Clere als Kind mit Vater Albino, 1950er-Jahre.
Portrait von Lucio Eicher Clere
Lucio Eicher Clere, 2021.

Draußen, auf dem kleinen Platz vor seiner Bäckerei, feiern die Dorfbewohner*innen einen Freiluft-Gottesdienst. Am 4. November ist „Giorno dell’Unità Nazionale“ und „Giornata delle Forze Armate“, also Tag der nationalen Einheit und Tag der Wehrkräfte. Lucio Eicher Clere steht am Ofen und schaut mit verwundertem Blick und einem Lächeln nach draußen ins silbrige Spätherbstlicht.

Die feiern tatsächlich die ,Victoria‘, den ,Sieg‘ von 1918 … Also, wenn ich Pfarrer wäre, ich würde sämtliche militärische Symbolik in der Kirche verbieten. Dabei knetet er Teig und zieht eine alte Metall-Form hervor, die sein Vater ab und zu verwendet hat, um damit ein Muster in sein Brot zu stanzen. 

Mein Vater hat diese Form vor Jahrzehnten von einem Freund bekommen, der sie selbst hergestellt hatte. Ja, ja, als deutscher Besucher hat man sofort eine eindeutige Assoziation. Aber dafür muss man nicht Deutscher sein, das ist ein Hakenkreuz, der Freund war überzeugter Faschist. Aber mein Vater hat das nicht so ernst genommen.

Lucio Eicher Clere geht rüber in den leeren Gastraum und legt eine Broschüre auf den Tisch, geschrieben von ihm, diktiert von seinem Vater: „Ricordi della Campagna di Russia“. Er setzt sich, er hat für seine deutschen Gäste Teigtaschen gebacken, dazu Salat, und fängt an zu erzählen:  

Bei meinem Vater war alles ein bisschen anders. Er hat den Russlandfeldzug mitgemacht. Insgesamt 200.000 Italiener waren dabei, von denen etwa 20.000 überlebt haben. Sie dachten anfangs, das wird ein Spaziergang nach Moskau. Dann sind sie in den Weiten der Ukraine steckengeblieben. Der Hunger und die Kälte müssen so furchtbar gewesen sein, er hat seine Erinnerungen an diese sechs Monate später ja aufgeschrieben und da ist mehrfach vom ,inferno di ghiaccio russo‘ die Rede, von der russischen Eishölle. Er sagte, auf dem Rückzug war die weißverschneite Erde oft schwarz von Leichen.

Sein italienisches Bataillon wurde Ende Januar ’43 zurückbeordert, 2.000 Kilometer zu Fuß, aus der Ukraine über Belarus bis Polen. Von da aus sind die wenigen Italiener, die noch am Leben waren, mit dem Zug nach Hause. Am 1. April ’43 stand er wieder hier vor der Tür, vor der Bäckerei seiner Eltern. Das Backen hat ihm in Russland wahrscheinlich das Leben gerettet, er wusste, wie man einen Ofen anheizt und hat für die Soldaten Brot gemacht.

Naja, er musste dann sofort wieder in den Krieg und im September war er plötzlich Kriegsgefangener und „Verräter“ und kam ins Lager nach Neuaubing, für 22 Monate. Aber da hat irgendeine wohlhabende Frau, wahrscheinlich die Ehefrau eines Parteibonzen, sich ihn als Hausangestellten oder sowas ausgewählt. Der Sohn dieser Deutschen war im Krieg, unten in Süditalien. Vielleicht hat mein Vater sie an ihren Sohn erinnert, jedenfalls bekam er dank dieser Frau gut zu essen und hat bei der Familie im Garten und auf dem Feld gearbeitet, total privilegiert, kein Wunder, dass er darüber später weniger gesprochen hat als über die Russlandzeit.

Nach dem Krieg hat er hier die Bäckerei übernommen. Er hat sich nie als Opfer gesehen. Aber es gab hier im Dorf wie überall in Italien diese absurde Opferkonkurrenz, die IMI’s galten nichts. Ich weiß noch, wie ein ehemaliger KZ-Insasse hier im Dorf mal einen ehemaligen Militärinternierten anraunzte: „Was wisst Ihr denn? Was habt ihr schon erlitten?“

Ich habe eigentlich Theologie und Psychologie studiert, hab dann aber hier die Bäckerei übernommen, als mein Vater nicht mehr konnte. Meine Tochter macht das Ganze mittlerweile in der vierten Generation.

[1] Michele Barricelli: „Schlimmer als die beste Schilderung“ – Die Erinnerung an NS-Zwangsarbeit als gesellschaftliche Aufgabe. In: Nerdinger, Winfried (Hrsg.): Zwangsarbeit in München. Das Lager der Reichsbahn in Neuaubing. Berlin 2018, S. 74.

[2] François Cavanna: Das Lied der Baba. München/Wien 1981, S. 267, zit. nach Christine Glauning: Mittdendrin und außen vor: Zwangsarbeit in der NS-Gesellschaft. In: Nerdinger, Winfried (Hrsg.): Zwangsarbeit in München. Das Lager der Reichsbahn in Neuaubing. Berlin 2018, S. 12-27, hier: S. 15.

[3] Vgl. Gabriele Hammermann: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Zeugnisse der Gefangenschaft. Aus Tagebüchern und Erinnerungen italienischer Militärinternierter in Deutschland 1943-1945. Berlin/München/Bosten 2014, S. 10.

[4] Joseph Goebbels: Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Eintrag 20.9.1943 sowie 23.9.1943, zit. nach: Gabriele Hammermann: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Zeugnisse der Gefangenschaft. Aus Tagebüchern und Erinnerungen italienischer Militärinternierter in Deutschland 1943-1945. Berlin/München/Bosten 2014, S. 6.

[5] Gabriele Hammermann: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Zeugnisse der Gefangenschaft. Aus Tagebüchern und Erinnerungen italienischer Militärinternierter in Deutschland 1943-1945. Berlin/München/Bosten 2014, S. 15.