Vom historischen Ort in den digitalen Raum

„Departure Neuaubing“ begleitet die Entstehung eines neuen Erinnerungsorts im Münchner Stadtteil Neuaubing. In der heutigen Ehrenbürgstraße 9, befinden sich acht Baracken eines ehemaligen Zwangsarbeiter*innenlagers, das 1942 von der Reichsbahn errichtet wurde. Bis zum Kriegsende 1945 wurden hier bis zu 1.000 Zwangsarbeiter*innen untergebracht, die aus verschiedenen Ländern Europas, insbesondere der Sowjetunion, Polen und Italien, verschleppt und zur Arbeit beim naheliegenden Ausbesserungswerk der Reichsbahn (RAW) gezwungen wurden. Bis 2025 wird hier ein Ausstellungs- und Erinnerungsort zur NS-Zwangsarbeit und ihrer Auswirkungen bis in die Gegenwart entstehen.

Die interaktive Web-App „Departure Neuaubing“ ermöglicht multiperspektivische Zugänge zur Geschichte, lädt dazu ein, das Wissen über die Zwangsarbeit zu erweitern, eigene Beiträge zu verfassen und sich über die Bedeutung der Vergangenheit für heute auszutauschen.

„Departure Neuaubing“ nimmt insbesondere die internationalen Zusammenhänge der Geschichte in den Fokus und entwirft erzählerische und künstlerische Formate, die sich mit der NS-Zwangsarbeit, ihren Auswirkungen und Kontinuitäten bis in die Gegenwart auseinandersetzen. Im Zusammenwirken von Kunst und historischem Wissen stellen sich Fragen nach dem Umgang mit Geschichte, nach Verdrängen, verspäteter Erinnerung sowie der Bedeutung historischer Erfahrungen für das heutige Europa.

Fassade einer Baracke und Bunker in Neuaubing
Das ehemalige Zwangsarbeiter*innenlager in München-Neuaubing, 2014. Foto: NS-Dokumentationszentrum München/Jens Weber

Partizipative Erinnerung

Gemeinsam mit Künstler*innen, Game-Designer*innen, Journalist*innen und Medienpädagog*innen sind vielschichtige Auseinandersetzungen und multimediale Zugänge entstanden, die das historische Wissen in Beziehung zu gegenwärtigen Lebensrealitäten stellen. Die eigens für das Projekt entwickelten Arbeiten führen nach Rotterdam, ins ukrainische Jewmynka, in Dörfer und Kleinstädte in Norditalien, aber auch an Orte in und um München.

Über Foto- und Textbeiträge könnt auch ihr das digitale Archiv von „Departure Neuaubing“ erweitern und über unterschiedlichste Aspekte der Geschichte und ihrer Nachwirkungen diskutieren: Wie beeinflusst die Vergangenheit unsere Gegenwart? Wie seid ihr selbst in die Geschichte eingebettet? Wie kann Geschichte sichtbar und erfahrbar werden? Wie stellt ihr euch einen Erinnerungsort der Zukunft vor? Und was wird gebraucht, damit ein Erinnerungsort entsteht? Von wem und mit welchem Interesse wird Geschichte erzählt? Wie kann Erinnerung lebendig bleiben? Wo ist die Geschichte innerhalb der Stadt sichtbar? Welche Geschichten erzählen Zeugnisse, Objekte und Dokumente? Wie stellt sich unfreie Arbeit heute dar? Und wie hängen Arbeit und Migration gegenwärtig zusammen?

Diese und weitere Fragen möchten wir gemeinsam mit Euch erforschen. „Departure Neuaubing“ entwickelt sich durch Partizipation und Interaktion beständig fort und soll anregen, Erinnerung als einen aktiven Prozess zu verstehen. Das Projekt thematisiert, was geschehen ist, vergegenwärtigt Geschichte und schafft Räume der Auseinandersetzung.

Mehrstimmigkeit und Multiperspektivität von Erinnerung

„Departure Neuaubing“ ist ein Kunst- und Vermittlungsprojekt, das mit digitalen Mitteln die Geschichte der NS-Zwangsarbeit multiperspektivisch erzählt: als persönliche Erfahrungen und kollektive Geschichten, über nationale Narrative hinaus und innerhalb eines globalen Zusammenhangs.

Millionen von Menschen wurden in der NS-Zeit aus verschiedenen europäischen Ländern verschleppt und ausgebeutet. Anerkennung erhielt nur ein kleiner Teil und dies sehr spät. Zugleich blieben in Deutschland Strukturen aus der Zeit der NS-Zwangsarbeit erhalten, durch die sich ehemalige NS-Profiteur*innen und deren Nachkommen weiterhin bereicherten. Die Weiternutzung dieser materiellen Grundlagen begünstigte zudem den wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands in der Nachkriegszeit. An diesen komplexen historischen Zusammenhängen setzt „Departure Neuaubing“ an und richtet den Blick auf den Umgang mit der Vergangenheit im Nachkriegseuropa bis heute.

Poster Ankündigung Departure Neuaubing

Die ersten sechs Projekte wurden gemeinsam mit den Künstler*innen Fabian Bechtle und Leon Kahane, Sima Dehgani, Hadas Tapouchi und Franz Wanner, den Spieledesigner*innen von Paintbucket Games, mit der Comiczeichnerin Barbara Yelin, dem Journalisten Alex Rühle (Süddeutsche Zeitung) und der Fotografin Alessandra Schnellnegger realisiert.

Neben den künstlerischen Arbeiten und anderen Beiträgen stehen ein Glossar zum Thema NS-Zwangsarbeit, eine historische Topographie der Stadt sowie Biografien und Ausschnitte aus Zeitzeug*innen-Interviews zur Verfügung.

Die unterschiedlichen Zugänge nutzen dokumentarische wie affektive Mittel und spiegeln die Mehrstimmigkeit von Erinnerung wider. Sie nutzen Mittel der Verfremdung, um einzelne Aspekte herauszustellen und gängige Narrative zu hinterfragen. Zugleich verdeutlichen sie, dass die Erinnerung an die gewaltvolle Geschichte der NS-Herrschaft von den sozialen und politischen Verhältnissen der Gegenwart abhängt und es Akteur*innen braucht, die sich aktiv mit der Vergangenheit auseinandersetzen.

Erinnerung stellt sich dabei als Prozess dar, bei dem Erfahrungen ein- und ausgeschlossen werden, als Auseinandersetzung mit verschiedenen Narrativen und Verhandlung von Deutungsmustern. Historisches Wissen prägt die gesellschaftliche Urteilskraft und schafft Raum für die Verhandlung der Frage, wie wir in einer pluralistischen Gesellschaft zusammenleben möchten.

„Departure Neuaubing“ setzt die Geschichte der Zwangsarbeit auf unterschiedliche Weise in Beziehung zur Gegenwart und lädt zur Partizipation ein. Zu diesem Zweck wurde gemeinsam mit mediale pfade ein medienpädagogisches Konzept zur Web-App entwickelt.

Als Erinnerungsprojekt im digitalen Raum, das nicht abgeschlossen ist, wird die Webseite gemeinsam aktualisiert und ergänzt. Vermittlungsangebote an verschiedenen Orten ermöglichen Begegnung und Austausch. Mit unterschiedlichen Medien und Methoden sucht „Departure Neuaubing“ nach neuen, vielfältigen Formen der Erinnerung innerhalb eines gemeinsamen europäischen Raums und versteht diese Suche als einen aktiven und kollektiven Prozess.

Medienpädagogischer Ansatz

von mediale pfade

Um Zugänge zum Thema NS-Zwangsarbeit für eine möglichst breite Gruppe an User*innen mit unterschiedlichen Vorerfahrungen und Online-Nutzungsgewohnheiten anzubieten, nutzt „Departure Neuaubing“ ein breites Spektrum an Medien- und Vermittlungsformaten: Geschichten in Form von Texten, Fotos und Filmen, einer Visual Novel sowie interaktives Kartenmaterial bieten spezifische Einstiegsmöglichkeiten in die Seite.

Die Web-App erweitert die Vermittlungsarbeit des NS-Dokumentationszentrums um eine digitale, interaktive Dimension und schafft vielfältige Lerngelegenheiten. Die Geschichte der NS-Zwangsarbeit wird aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, die – technisch wie thematisch – vielfach miteinander verknüpft sind. Im Fokus steht die Darstellung von Zwangsarbeit in ihrer europäischen Dimension. Durch Verschlagwortung, über Personen-, Orts- und Themenregister sowie ein Glossar werden vielfältige Bezüge herausgestellt. Diese werden durch Möglichkeiten ergänzt, an der Website über Text- und Bildforen zu partizipieren. Um möglichst viele Menschen zu erreichen, ist „Departure Neuaubing“ als offenes Bildungsmaterial und Open Source gestaltet. Für eine aktive und nachhaltige Diskussion um die Bedeutung und Auswirkung der Geschichte der NS-Zwangsarbeit in die Gegenwart auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene, ist ein freier Zugang zu Informationen von wesentlicher Bedeutung.

Das medienpädagogische Konzept kombiniert zwei Ansätze: Grundlage der Zugänglichkeit ist zunächst die mediale Aufarbeitung und mediengestützte Vermittlung von Inhalten und künstlerischer Arbeiten im Kontext des Themas NS-Zwangsarbeit. Diese Inhalte werden dann über Referenzierung historischer, biografischer und topologischer Daten miteinander in Beziehung gesetzt und erlauben das Verweisen, Sortieren und Filtern von Themen. Dadurch haben User*innen die Möglichkeit, sich Inhalte sowohl themen- als auch mediengeleitet zu erschließen. Darüber hinaus erlauben Verschlagwortung, Verlinkungen und die strukturierte Suchfunktion eine zielgerichtete Nutzung. „Departure Neuaubing“ unterstützt so unterschiedliche Nutzungsweisen, von explorativ bis planvoll.

Die Web-App greift aktuelle Entwicklungen wie Storytelling, Mediatisierung, Medienkonvergenz oder Verschlagwortung über Hashtags auf, die unter anderem durch soziale Netzwerke etabliert sind und den Medienalltag insbesondere von jungen Menschen bestimmen. Die zunehmende Bedeutung von Visualisierungen in einer digitalisierten Welt – bieten dabei neue Lernmöglichkeiten: Indem Karten, Fotos oder Beschreibungen durch die Lernenden selbständig erarbeitet oder erweitert werden, wird eine themenzentrierte, aktive Medienarbeit ermöglicht. Dokumente und Quellen fungieren dabei zum einen als Lernmedien, zum anderen werden sie durch zusätzliche Kontextualisierungen und künstlerische wie journalistische Perspektiven auch selbst Gegenstände des Lernens, etwa um Quellenkritik einzuüben. „Departure Neuaubing“ thematisiert so die Geschichte der NS-Zwangsarbeit, als auch die Perspektivierung und Gemachtheit von Geschichtsschreibung.

Nicht zuletzt bietet die Web-App Möglichkeiten, die Darstellung zu personalisieren und barrierefreie Einstellungen zu nutzen. Über das erprobte Design wird ein spezifisches Nutzer*innenerlebnis gestaltet, bei dem Animationen und interaktive Elemente den Besuch leiten, durch die Seiten führen und zur Partizipation über eigene Beiträge einladen.

Gestalterisches Konzept

von operative.space

Für die Gestaltung der Webseite sind drei Aspekte zentral: 1) Das Thema NS-Zwangsarbeit wird in Form von Brüchen und Kontinuitäten aufgegriffen. 2) Durch niedrigschwellige Zugänge wird den User*innen ein einfacher Einstieg ermöglicht und 3) Interaktionen eröffnen Erfahrungsräume für die individuellen künstlerischen Perspektiven.

Typografie macht Sprache und damit textliche Inhalte nicht nur zugänglich, also lesbar, sondern beinhaltet bereits selbst Geschichten, Kontexte und Zusammenhänge, die nur selten unmittelbar an den Buchstabenformen zu erkennen sind. Die gestalterische Entscheidung für eine Schrift enthält neben formal-ästhetischen Aspekten daher immer auch inhaltliche Dimensionen, – wenn auch oft unbewusst. „Departure Neuaubing“ versteht sich als Geschichtsprojekt im digitalen Raum. Mit der typografischen Gestaltung wird sowohl auf den historischen Kontext des Projektes, als auch auf seine digital vermittelnde Form Bezug genommen, indem zwei sehr unterschiedliche Schriften – Elisabeth und Lexend – kombiniert werden:

Elisabeth ist eine Schrift, die 1928 in Auftrag gegeben und 1938 fertig gestellt wurde. Sie ist gestaltet von Elizabeth Friedländer und sollte, wie damals üblich, unter ihrem Nachnamen veröffentlicht werden. 1933, nach Machtübernahme der Nazis, wurde Friedländer von der Bauerschen Schriftgießerei gebeten, die Schrift nicht unter ihrem jüdischen Nachnamen, sondern als „Elisabeth-Antiqua“ zu veröffentlichen.[1] Im selben Jahr verlor Friedländer ihre Anstellung und musste nach Italien emigrieren. 1939 floh sie nach London, von wo sie als Gestalterin für den Widerstand gegen Nazi-Deutschland an der Herstellung gefälschter deutscher Drucksachen arbeitete.[2]

Lexend hingegen ist eine Schrift, die entwickelt wurde, um den Lesefluss zu verbessern.[3] Durch ihre klare, einfache Formensprache berücksichtigt die Schriftgestaltung unterschiedliche Fähigkeiten der Wahrnehmung. Die Zugänglichkeit der Inhalte steht somit im Vordergrund.
Diese Aspekte der beiden Schriften – eine gute Lesbarkeit einerseits und der historisch-inhaltliche Bezug andererseits, werden im Titelschriftzug kombiniert, um so eine eigenständige Erscheinung zu schaffen.

Während sich die Interaktion beim Lesen von Büchern auf das Blättern von Seiten beschränkt, so sind die Grenzen des Digitalen scheinbar virtuell und doch durch Gewohnheit sehr eng gesetzt. Teil des gestalterischen Konzeptes ist es, diese Erwartung leicht zu verschieben, zu erweitern und damit die einzelnen Beiträge erfahrbar zu machen. Bilder sind angeschnitten, deuten auf mehr hin und ermutigen dazu Inhalte neu anzuordnen. Hinter Links und Leisten finden sich Kontext und Komplexitäten, inhaltliche und formale Spannungen: Die Einladung einzutauchen und zu hinterfragen, Perspektiven zu erweitern und Beziehungen herzustellen. Dieser Haltung versteht sich die Gestaltung verpflichtet.

[1] Andreas Hansert, Georg Hartmann (1870-1954): Biographie eines Frankfurter Schriftgiessers, Bibliophilen und Kunstmäzens, Wien 2009, S. 114.
[2] Online-Artikel: Maev Kennedy, Exhibition celebrates wartime artist famous for Mills & Boon covers, in Guardian, 26.12.2017, (16.01.2022).
[3] Online: Bonnie Shaver-Troup, Thomas Jockin, Santiago Orozco, Héctor Gómez, Superunion, LEXEND font, 2019, .

Über das Projekt

Departure Neuaubing. Europäische Geschichten der Zwangsarbeit

Ein digitales Geschichtsprojekt des NS-Dokumentationszentrums München

 

Team

Direktorin
Mirjam Zadoff

Konzeption
Juliane Bischoff, Paul-Moritz Rabe

Projektleitung
Juliane Bischoff

Wissenschaftliche Mitarbeit
Andreas Eichmüller, Angela Hermann, Kristina Tolok

Projektkoordination
Jana Kreutzer

Teilnehmende
Fabian Bechtle & Leon Kahane, Sima Dehgani, Alex Rühle & Alessandra Schellnegger (Süddeutsche Zeitung), Hadas Tapouchi, Franz Wanner, Paintbucket Games (Mona Brandt, Jörg Friedrich, Vivian Köhler, Dominik Schott, Sebastian Schulz, Kimberly Thalmeier, Jan-Dirk Verbeek, Jonathan Witt) & Barbara Yelin

Webdesign und Grafikdesign
Robert Preusse, Stefanie Rau (operative.space)

Medienpädagogische Konzeption und Beratung
Leon Behn, Robert Behrendt, Daniel Seitz (mediale pfade)

Texte
Juliane Bischoff, Paul-Moritz Rabe, Kristina Tolok

Korrektorat
Denis Heuring, Anke Hoffsten, Dirk Riedel

Vermittlung
Nathalie Jacobsen, Martin Zehetmayr

Kommunikation
Kirstin Frieden, Ilona Holzmeier

Übersetzung
Barbara Baroni (Italienisch), Liubov Danylenko (Ukrainisch), Melanie Newton, KERN Sprachendienste (Englisch)

Programmmanagement Launch
Jonas Peter

Ausstellungsarchitektur NS-Dokumentationszentrum München
Janina Sieber

Technik
Ibrahim Özcan, Joseph Köttl

„Departure Neuaubing“ wurde entwickelt im Rahmen von „dive in. Programm für digitale Interaktionen“ der Kulturstiftung des Bundes, gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) im Programm „NEUSTART KULTUR“.