Tag: Verlorene Kindheit

  • Projekt, Sima Dehgani

    Die letzten „Ostarbeiter“ und „Ostarbeiterinnen“ verließen erst im Spätsommer 1945 das Lager in Neuaubing. Ihre Heimreise bedeutete oftmals eine Fahrt ins Ungewisse. Ein Großteil von ihnen kam zunächst in sogenannte Filtrationslager, wo sie von Mitarbeiter*innen des sowjetischen Geheimdienstes NKWD verhört wurden. Auch später wurden viele von ihnen weiter pauschal der Kollaboration mit den Nazis verdächtigt, geheimdienstlich überwacht und diskriminiert.

     

    Hanna Hutnyk, Marija Sadova, Oleksandra Havriš, Hanna Šust‘ und Anna Šapovalova wurden im Alter von 3 bis 17 aus Jewmynka nach Deutschland verschleppt, konnten jedoch nach Kriegsende in ihr Heimatdorf zurückkehren. Sie wollten an ihr vorheriges Leben anzuknüpfen, doch die Zeit in Deutschland bestimmte ihren Alltag. Zeitlebens wurden sie von außen mit Skepsis wahrgenommen. Auch wenn sie versuchten diesen Teil ihrer Vergangenheit hinter sich zu lassen, war diese aktenkundig: Ihre Geheimdienstunterlagen blieben bis in die 1980er Jahre Teil ihrer Personalakten.

     

    Sima Dehgani reiste 2021 gemeinsam mit der Osteuropa-Expertin Kristina Tolok in die Ukraine, um dieser verlorenen Zeit in dem Lebensumfeld der Zeitzeug*innen nachzuspüren. Unterstützt wurden sie dabei von Ljubov Danylenko, Expertin zum Thema NS-Zwangsarbeit. Sie trafen Angehörige der ersten bis vierten Generation, das heißt die Zeitzeug*innen selbst, sowie deren Kindern, Enkel und Urenkel, die die Erinnerungen der ehemaligen Zwangsarbeiter*innen weitertragen. Eine besondere Rolle im familiären Gedächtnis nehmen Objekte ein, da sich in ihnen Erfahrungen, über die nicht gesprochen wurde, materialisieren und erhalten. Oft sind es Fotos von Angehörigen, die deren Abwesenheit verkörpern, aber auch eine Verbindung zu den Verstorbenen herstellen. Aufbewahrte Gegenstände aus Deutschland haben nicht nur symbolischen Gehalt, sondern fungieren mitunter als Beweisstücke für die erlittene Zwangsarbeit und daraus zu fordernde Entschädigungen. Dehganis Fotoserie vermittelt, wie sich Erinnerung in vielfältigen Formen bewahrt und wie Objekte Geschichte aktivieren können. Ihre Arbeit zeigt, dass das kollektive Gedächtnis an konkrete Dinge und Orte gebunden und in soziale Räume eingebettet ist.